Schmidt-Gespräche #4
Schmidt-Gespräch über den Internationalen Jugendaustausch
Warum kann eine Auslandserfahrung nicht ein selbstverständlicher Teil jeder Bildungsbiografie sein? Die Gäste am Wohnzimmertisch von Helmut und Loki Schmidt beim Schmidt-Gespräch #4 waren sich einig, dass dies der Idealzustand wäre. Immerhin ist wissenschaftlich belegt, dass sich eine solche Erfahrung positiv auswirkt. Ein Auslandsaufenthalt fördert – auch schon bei kurzer Dauer – die Persönlichkeitsentwicklung von jungen Menschen. Untersuchungen zeigen, dass Teilnehmende von Austauschprogrammen weltoffener, teamfähiger und mit mehr Selbstsicherheit durchs Leben gehen.
Mit umso größerem Bedauern besprachen die Gäste aus Politik, Kultur, Wirtschaft und Jugendarbeit den Rückgang der Aktivitäten im Bereich internationaler Jugendaustausche. In den 1990er Jahren machte der Internationale Jugendaustausch noch 10 Prozent der Angebote der Jugendarbeit aus, heute sind es bei gleichbleibenden Mitteln nur noch 2 Prozent. Auch im langfristigen individuellen Jugendaustausch (Aufenthalte ab drei Monate) sind rückläufige Zahlen festzustellen. Während es im Jahr 2010 ein Hoch mit 16.000 teilnehmenden Jugendlichen in Deutschland gab, waren kurz vor der Pandemie nur noch 12.500 Teilnehmende dabei. Mit der sogenannten Zugangsstudie (Forschungsprojekt „Warum nicht? Studie zum Internationalen Jugendaustausch: Zugänge und Barrieren“ von 2016 bis 2018) wurde aufgezeigt, dass 74 Prozent der befragten jungen Menschen noch nicht an Formaten des Internationalen Jugendaustauschs teilgenommen haben, obwohl bei 63 Prozent ein großes Interesse an diesen Formaten besteht – und zwar milieuübergreifend.
Problem und Lösung
Durch die Zugangsstudie sind auch die Gründe für diese Kluft zwischen Interesse und tatsächlicher Teilnahme am Internationalen Jugendaustausch bekannt: Jugendlichen fehlen oft die richtigen Informationen, teilweise fehlen Zeitfenster für einen Austausch, manche haben Trennungsängste oder sie wollen sich nur auf die Schule fokussieren. Darüber hinaus stellen sich bürokratische und aufwändige Förderstrukturen, mangelnde finanzielle Ausstattung der Internationalen Jugendarbeit und eine bislang unzureichende Stärkung der Internationalen Jugendarbeit auf lokaler Ebene als Zugangsbarrieren dar.
Die Gesprächsrunde befasste sich daher besonders mit den Fragen, welche strukturellen Grundlagen es bräuchte, um den Internationalen Jugendaustausch zu stärken, und wie der Internationale Jugendaustausch eine breitere Wirkung in der Zivilgesellschaft entfalten kann.
Übereinstimmend wurde festgestellt, dass die Teilnahme an Austauschformaten oft an einzelnen Lehrkräften hänge. Hier gebe es großen Unterstützungsbedarf, da das Schulsystem sehr belastet sei. Zudem wurde die Bedeutung der institutionellen Jugendarbeit für den Internationalen Jugendaustausch thematisiert und die finanzielle Unterstützung von Gastfamilien diskutiert. Auch der Einsatz von digitalen Formaten für interessierte Familien und Jugendliche wurde angesprochen. Digitale Formate böten einen schnellen und kostengünstigen Austausch mit Gastfamilien, einen Zugang zu niedrigschwelliger Vorabbegleitung.
Das Fazit
Aus der Gesprächsrunde ergaben sich einige konkrete Handlungsansätze. Die Teilnehmenden vereinbarten, die bei diesem Schmidt-Gespräch geknüpften Kontakte aktiv zu nutzen.
Geplant sind in Kooperation mehrere der teilnehmenden Institutionen sowohl ein weiterer Austausch zum Thema – diesmal besetzt mit der Zielgruppe selbst, also Jugendlichen, die selbst über Austauscherfahrungen verfügen Außerdem gibt es konkrete Ansätze für gemeinsame Initiativen der beteiligten zivilgesellschaftlichen Organisationen in Richtung der öffentlichen Förderprogramme im Bund und in der Europäischen Union.
Zum Format Schmidt-Gespräche:
Das Haus von Helmut und Loki Schmidt war stets ein Ort politischer und gesellschaftlicher Diskussionen. Staatsoberhäupter saßen beim früheren Bundeskanzler und seiner Frau im Wohnzimmer oder an der Hausbar. Seit 1985 lud Helmut Schmidt regelmäßig die Freitagsgesellschaft zu sich nach Hause ein: 25 Männer und Frauen, die im Winterhalbjahr immer am zweiten Freitag im Monat zusammenkamen, um über Themen aus Politik, Kultur, Wissenschaft oder Wirtschaft zu diskutieren.
Die Schmidt-Gespräche sind ein Format, das in der Tradition der Schmidts Akteurinnen und Akteure verschiedenster Disziplinen zu aktuellen Themen an einen Tisch bringt. So entstehen Impulse, die im besten Falle gesellschaftlich relevante Debatten voranbringen und unterschiedliche Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens miteinander vernetzen.
Es wird ein geschützter Raum geschaffen, der den Teilnehmenden eine ebenso offene wie vertrauensvolle Gesprächsatmosphäre bietet. Die Helmut und Loki Schmidt-Stiftung ist Gastgeberin der Schmidt-Gespräche auf.
Die Liste der Teilnehmenden
- Dr. Carsten Brosda, Senator für Kultur und Medien der Freien und Hansestadt Hamburg und Mitglied des Kuratoriums von YFU
- Mirjam Eisele, Geschäftsführerin der Stiftung zur Förderung des Internationalen Jugendaustausches in Bayern
- Dr. Alexandra Gerstner, Leiterin des Programmbereichs Persönlichkeitsbildung der Joachim Herz Stiftung in Hamburg
- Manuel Gerstner, Vorstand des AFS Interkulturelle Begegnungen e. V. in Hamburg
- Arne Gillert, Kessels & Smit – the learning company (Moderation)
- Ute Haller-Block, Leiterin des Referats Erasmus+-Koordinierung in der Generaldirektion Bildung, Jugend, Sport und Kultur der Europäischen Kommission
- Stefan Herms, Geschäftsführender Vorstand Helmut und Loki Schmidt Stiftung (Gastgeber)
- Petra Lotzkat, Staatsrätin der Behörde für Arbeit, Gesundheit, Soziales, Familie und Integration der Freien und Hansestadt Hamburg
- Knut Möller, Senior Advisor beim AJA – Arbeitskreis gemeinnütziger Jugendaustausch
- Annette Müller-Borghardt, Projektsekretariat Helmut und Loki Schmidt Stiftung
- Jeannette Otto, DIE ZEIT Redakteurin, Bildung und Wissenschaft
- Jan Pörksen, Staatsrat, Chef der Senatskanzlei und des Personalamtes der Freien und Hansestadt Hamburg und Mitglied des Kuratoriums von AFS
- Daniel Poli, Direktor von IJAB – Fachstelle für Internationale Jugendarbeit der Bundesrepublik Deutschland e. V.
- Mareike von Raepke, Geschäftsführerin des Deutschen Youth for Understanding e. V. (YFU)
- Christian Scherf, Administrativer Vorstand des Helmholtz Zentrums für Infektionsforschung, Braunschweig
- Thomas Thomer, Unterabteilungsleiter in der Abteilung „Kinder und Jugend“ im Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Was hat das mit Helmut Schmidt zu tun?
Das beschriebene Spannungsverhältnis von politischer Willensbildung und wissenschaftlicher Verantwortung prägte in besonderem Maße die Regierungs- und Wirkenszeit von Helmut Schmidt. Einerseits war für Schmidt eine Einbeziehung wissenschaftlicher Expertise stets ausgesprochen wichtig. Andererseits war er dabei auch immer auf das Primat der Politik in der Demokratie bedacht. In diesem Sinne finden auch die Schmidt-Gespräche statt.
Foto: hermannjansen.de / Helmut und Loki Schmidt-Stifung